Mit Bibliomania veröffentlicht Manga Cult ein Werk, das sich jeglicher Konvention entzieht. Was auf den ersten Blick wie eine düstere Reinterpretation von Alice im Wunderland anmutet, entpuppt sich schnell als surrealer, vielschichtiger Abstieg in die Tiefen der menschlichen Psyche.
Zwischen September 2016 und April 2018 wurden die einzelnen Kapitel in Japan zunächst auf der Webplattform Kai-You veröffentlicht. Im Jahr 2019 erschien der Manga dann auch als E-Book. Das Werk, das von Orval (Story) und Macchiro (Zeichnungen) stammt, basiert auf dem gleichnamigen Anime-Kurzfilm, der bereits im Juni 2013 in Japan veröffentlicht wurde.
In Deutschland liegt die Lizenz bei Manga Cult, die den Band als Master Edition herausbringen.

Story: Orval, Zeichnungen: Macchiro | Originaltitel: Bibliomania | Übersetzung: Rahel Niedermann | Genre: Horror, Fantasy | Demografische Zielgruppe: Seinen | Verlag: Manga Cult | Preis: 28,00€ | mehr Informationen auf der Verlagsseite

Wie war’s?
Die Handlung beginnt in einer postapokalyptisch anmutenden Welt, in der ein junges Mädchen namens Alice in einem vollkommen weißen Raum mit der Nummer 431 erwacht. Dort begegnet sie einer schlangenartigen Kreatur, die ihr erklärt, sie befinde sich in einem riesigen Gebäude, bestehend aus 666 Zimmern. Sollten alle Zimmer bezogen sein, gäbe es eine große Party. Wer hier lebt, bekommt all seine Wünsche erfüllt, mit dem Preis, nie wieder hinauszukommen. Alice will jedoch zurück in die Wirklichkeit und begibt sich auf eine albtraumhafte Reise rückwärts durch die Räume, vorbei an grotesken Figuren, seelischen Abgründen und moralischen Fragen. Mit jeder Kammer, die sie durchschreitet, verändert sich nicht nur ihre Umgebung, sondern auch sie selbst. Ihr Körper beginnt, sich zu zersetzen, zu verändern, monströse Züge anzunehmen. Je weiter sie voranschreitet, desto tiefer gerät sie in einen Strudel aus körperlichem und psychischem Verfall.
Dieser Weg durch die 430 vor ihr liegenden Zimmer ist weit mehr als eine metaphorische Reise. Jeder Raum konfrontiert Alice mit menschlichen Abgründen, mit verdrängten Wünschen, Schmerz, Verlust und den Schattenseiten der Gesellschaft. Dabei sind die Themen vielfältig und reichen von familiärer Gewalt über Leistungsdruck bis hin zur Flucht in virtuelle oder irreale Welten. Viele dieser Motive werden angerissen, wirken jedoch teilweise nur oberflächlich behandelt. Die Geschichte entwickelt eine fiebrige Intensität, doch es fehlt mitunter an erzählerischer Tiefe, um die zahlreichen aufgeworfenen Gedanken auch wirklich auszuführen. Das lässt manches unfertig erscheinen.
Der Manga will alles auf einmal und wirkt dadurch oft eher wie ein collageartiger Ideensturm als ein kohärentes Werk. Es bleibt bei Momenten, deren emotionale Wirkung verpufft, weil sie lediglich aneinandergereiht werden, ohne in die Tiefe zu gehen. Die Erzählung wirkt dadurch gehetzt, als sei das Ziel eher das Schockmoment als das Verständnis.
Hinzu kommt, dass die emotionale Distanz zu den Figuren durch die Erzählweise verstärkt wird. Alice bleibt trotz ihrer zentralen Rolle eher eine Projektionsfläche als eine greifbare Figur. Ihre Motivation wirkt lange Zeit diffus, ihre Entwicklung sprunghaft. Man folgt ihr zwar durch die Höllenräume der menschlichen Psyche, fühlt aber selten wirklich mit ihr. Das liegt nicht nur am fragmentarischen Storytelling, sondern auch daran, dass das Werk sich stärker auf Atmosphäre und Wirkung verlässt als auf Charakterentwicklung.
Manchmal springt die Handlung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen innerer Wahrnehmung und äußerer Realität. Das verstärkt das Gefühl von Orientierungslosigkeit, das auch Alice selbst empfindet. Diese Verunsicherung ist sicherlich beabsichtigt und macht einen Teil des Reizes der Lektüre aus, doch sie kann auch frustrierend wirken, vor allem, wenn der rote Faden nur schwer zu greifen ist. Die finale Wendung bringt viele der zuvor angedeuteten Themen dann noch einmal zusammen, greift Motive der biblischen Verführung, der Erkenntnissucht und der Selbstzerstörung auf.
Es gibt ohne Frage gute Ansätze. Das Spiel mit der Metaebene – ein Buch über Bücher, eine Reise durch Seiten und Kapitel – ist reizvoll. Auch der Gedanke, mit jeder durchquerten Kammer nicht nur dem Ausgang näher zu kommen, sondern zugleich körperlich und seelisch zu verfallen, ist eine starke Metapher. Doch statt diese Ideen zu entfalten, verlieren sie sich in einem Wust aus Symbolen, Referenzen und Zitatversatzstücken. Was bleibt, ist der Eindruck eines Werkes, das mehr sein will, als es leisten kann.
Trotz dieser erzählerischen Unruhe gelingt es dem Manga, eine Atmosphäre zu erzeugen, die von Anfang bis Ende trägt. Dies liegt nicht zuletzt an der gestalterischen Stärke von Macchiro, dessen Stil zwischen leichten, fast kindlichen Linien und detailliertem Body Horror schwankt. Die Wandlungsfähigkeit des Zeichenstils ist beeindruckend und trägt wesentlich zum immersiven Erlebnis bei. Besonders Alices körperliche Veränderung ist ein wiederkehrendes visuelles Motiv, das ebenso faszinierend wie verstörend wirkt. Einzelne Doppelseiten bieten Höhepunkte.
Manga Cult hat den Manga in einer hochwertigen Hardover-Master-Edition herausgebracht und ohne Frage erkennt man die Liebe, die die Redaktion in dieses Werk gesteckt hat.
Fazit
“Bibliomania” ist ohne Frage kein leicht zugängliches Werk und man merkt deutlich, dass das Duo hinter dem Titel große kreative Freiheiten hatte. Sowohl visuell als auch erzählerisch kommt das klar zum Ausdruck. Allerdings versucht der Manga, zu viele Themen gleichzeitig zu behandeln, wodurch manches nur an der Oberfläche kratzt.
Wer groteske Horror-Geschichten mag, die auch eine Botschaft mitbringen, der wird sicherlich bei “Bibliomania” gut bedient. Wenn man etwas mehr Tiefe möchte und eine leicht zugänglichere Story, dürfte man indes weniger Freude an dem Band haben.

Bei diesem Manga handelt es sich um ein Rezensionsexemplar, welches mir freundlicherweise von Manga Cult zur Verfügung gestellt worden ist. Vielen Dank dafür!



