Herzlich willkommen auf meinem Mangablog. Hier findet ihr Rezensionen zu deutschen und englischen Manga sowie Beiträge über Themen und Aspekte, die mich an dem Medium interessieren. Ab und an schaue ich auch über den Tellerrand hinaus und schnuppere in Comic-Kunst abseits Japans hinein.

Tokyo dieser Tage Manga

Tokyo dieser Tage: Eine Liebeserklärung an Manga und Metropole

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Es gibt Werke, die man konsumiert und es gibt Werke, die einen noch lange nach dem Zuklappen des Buchdeckels begleiten. Taiyo Matsumotos “Tokyo dieser Tage” gehört für mich zweifellos zur zweiten Kategorie. Die Reihe ist kein Drama im klassischen Sinn, besitzt keinen rasanten Plot, der den Leser atemlos durch die Seiten treibt. Es ist vielmehr eine stille Reflektion in Bildern, eine Meditation über Arbeit, Kunst, Stadt und das Altern in einem Medium, das nie stillsteht.

In Japan erschien die Reihe vom Juni 2019 bis zum Juni 2023 in Shogakukans Seinen-Magazin Big Comic Original Zokan. “Tokyo dieser Tage” wird drei Bände umfassen und erscheint, wie alle zuletzt auf dem deutschen Markt veröffentlichten, Matsumoto-Werke bei Reprodukt.

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Text/Zeichnungen: Taiyo Matsumoto |Originaltitel: Tokyo Higoro | Übersetzung: Daniel Büchner | Verlag: Reprodukt | Genre: Drama, Slice-of-Life | Demografische Zielgruppe: Seinen | Preis: 20,00€ | Weitere Informationen

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Ein Leben nach dem Manga

Im Mittelpunkt steht Kazuo Shiozawa, ein Mann, der sein Leben dem Manga gewidmet hat und als Redakteur arbeitet. Als das Magazin, in das er all seine Energie gesteckt hat, wegen schwacher Verkaufszahlen eingestellt wird, fällt sein Leben in eine seltsame Leere.

Er verlässt seinen Job, beginnt über den Verkauf seiner Manga-Sammlung nachzudenken und erkennt doch, dass er die Welt des Manga nicht einfach hinter sich lassen kann. Es ist nicht nur ein Beruf für ihn, sondern eine Identität. In dieser Krise beschließt Shiozawa, es ein letztes Mal zu versuchen. Er will einen Manga verlegen, das nicht nach Trends schielt, sondern nach Wahrhaftigkeit strebt. Er soll kein Produkt sein, sondern den Künstler zeigen, so wie er ist, ohne nach Verkaufszahlen zu streben.

Matsumoto verzichtet auf dramatische Zuspitzungen und konzentriert sich auf das, was in den Zwischenräumen geschieht: die Gespräche, die Zigarettenpausen, die stillen Momente am Schreibtisch.

Künstler zwischen Glut und Müdigkeit

Um Shiozawa herum entfaltet Matsumoto ein vielstimmiges Ensemble von Künstlern, Redakteuren und (ehemaligen) Mangaka. Da ist Chosaku, ein Altmeister, der längst Routine in seine Arbeit gebracht hat und dessen Leben von Trennung und Reue durchzogen ist. Es gibt Kaoru Kiso, die einst aufgab, um Familie und Alltag zu bewältigen, und nun durch Shiozawas Enthusiasmus wieder zu den Zeichenstiften greift. Und da ist Shin Arashiyama, der die Welt des Manga mit Bitterkeit verlassen hat, weil die Leidenschaft ihn ausgebrannt hat.

Diese Figuren spiegeln unterschiedliche Lebensphasen des Künstlers wider. Matsumoto zeigt in ihnen, dass Kunst immer auch ein Kampf ist. Gegen die Ermüdung der Routine, die Ernüchterung der Realität, den Druck des Marktes. Jeder dieser Menschen ringt mit der Frage, ob es das wert ist: die schlaflosen Nächte, die Einsamkeit, die verpassten Chancen, das schleichende Gefühl, dass man nie ganz ankommt.

Was sie verbindet, ist die Liebe zum Manga, auch wenn diese Liebe schmerzt. Matsumoto fängt diese Ambivalenz in feinen Nuancen ein.

Tokyo als Spiegel und Gegenüber

Taiyo Matsumotos Stil ist unverkennbar. Seine Linien zittern, seine Flächen atmen. Er nutzt Aquarell, Tinte und Leere auf eine Weise, die alles Technische vergessen lässt. Rasterfolien, digitale Texturen und Glätte fehlen völlig. Stattdessen sind die Seiten durchzogen von einer organischen Unruhe, einem handwerklichen Pulsschlag, der das Lebendige sichtbar macht.

Die Figuren sind oft kantig, ihre Gesichter unregelmäßig. Seine Architektur wirkt nicht exakt, sondern als hätte er sie aus der Erinnerung gezeichnet. Dennoch trägt sein Stil für mich immer Leben und ist voller Emotionen, die man in modernen, mit Grafikprogrammen entworfenen Manga mit perfekten Linien oft vermisst.

Jedes Kapitel endet mit einer ganzen Seite, die Tokyo zeigt. Keine spektakulären Szenen, keine berühmten Wahrzeichen, sondern gewöhnliche Straßen, Bahnübergänge, Schaufenster, Dächer, Brücken, die sich im Regen spiegeln. Diese Bilder wirken wie Atempausen zwischen den Kapiteln. Man hat das Gefühl, Tokyo ist hier kein bloßer Schauplatz. Es wird zu einem Charakter, der die Stimmungen der Figuren aufnimmt und verstärkt. Matsumoto zeigt die Stadt als ein pulsierendes Wesen, das inspiriert und gleichzeitig verschlingt.

Die Stadt steht für das Medium Manga selbst: geschäftig, voller Widersprüche, nie still, immer in Bewegung. Doch sie ist auch einsam, unbarmherzig, indifferent gegenüber den Träumen derer, die in ihr leben. Wenn Matsumoto am Ende jedes Kapitels die Perspektive hebt und die Stadt aus der Ferne zeigt, lädt er den Leser ein, innezuhalten.

Ein leiser Nachhall

“Tokyo dieser Tage” ist auch ein Buch über Beziehungen: zwischen Künstlern, zwischen Freunden, zwischen Mensch und Stadt. Es geht um gegenseitige Inspiration, um Vertrauen, um Enttäuschung. Matsumoto zeigt, dass das Schaffen von Manga keine einsame Tätigkeit ist, sondern ein Netz aus Bindungen, aus Gesprächen, aus gegenseitiger Fürsorge und Reibung.

Shiozawa fungiert als eine Art Katalysator für diese Begegnungen. Er bringt Menschen wieder zusammen, entzündet in ihnen eine alte Leidenschaft, fordert sie heraus, über sich hinauszuwachsen. Aber auch er selbst wird von ihnen verändert. In ihrem Spiegel erkennt er, dass Kunst kein Ziel, sondern ein Prozess ist.

Taiyo Matsumoto hat sich nie dem Mainstream unterworfen. Von “Tekkonkinkreet” über “Ping Pong” bis hin zu “Sunny” zieht sich eine Linie der Aufrichtigkeit durch sein Werk. Doch “Tokyo dieser Tage” ist vielleicht das persönlichste seiner Bücher. Es ist weniger eine Geschichte als ein Spiegel, in dem ein Künstler auf sein eigenes Leben blickt.

“Tokyo dieser Tage” begegnet nicht nur den Figuren, sondern auch der Seele eines Mannes, der seit Jahrzehnten in dieser Stadt lebt, zeichnet, liebt, zweifelt. Es ist sicherlich keine Reihe für die breite Masse, wer allerdings ruhige Geschichten mit einem gewissen Extra zu schätzen weiß, wird seine Freunde an dem dreibändigen Werk finden.

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Bei diesem Band handelt es sich um ein Rezensionsexemplar, welches mir freundlicherweise von Reprodukt zur Verfügung gestellt worden ist. Vielen Dank dafür!

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